Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,
jedes Mal, wenn ich das Glück habe, einer Blindschleiche oder einer Ringelnatter zu begegnen, erschrecke ich mich im ersten Moment, weil diese Tiere so fremd sind, so anders, sich schlängelnd schnell bewegen, ohne das man genau erkennen könnte, wie ihr Körper diese elegante Bewegung entstehen lässt.
Ihre gespaltenen Zungen blitzen hervor, so als ertasteten sie damit die Stimmung der Außenwelt, und glichen sie mit der Temperatur ihrer Seelenlandschaft ab.
Und betörend erst ihr Glanz. Die Ringelnatter, die ich im vergangenen Oktober auf einer glatten schwarzen sonnenwarmen Landstraße zwischen zwei kleinen Dörfern in der Eifel bewundern konnte, schimmerte blaugrün, wie ein Opal, der sich in ein wechselwarmes S verwandelt hat, bloß um alle Nuancen seiner tausend Farben leuchten zu lassen.
Ich hielt den Atem an, als ich diesen sich schlängelnden Edelstein sah und hielt sicheren Abstand. Bloß unbemerkt bleiben, um das sich ständig neu formende und doch stets bestehende S in seiner Choreografie nicht zu stören. Mit klopfendem Herzen blieb ich zurück, als die perlmuttene Natter in einer hohen Wiese wieder Tarnung und Feuchte fand.
Diese Ringelnatter war mit ihrer Schönheit und ihrer stattlichen Größe von bestimmt einem Meter, unübersehbar.
Deutlich kleiner ist die Blindschleiche, die nicht zu den Schlangen zählt, sondern zu den Echsen, zur Familie der Schleichen. Sie kann bis zu einem halben Meter lang werden.
Die Blindschleiche schimmert kupfer- und bronzefarben, was ihr ihren Namen gegeben hat: „Blind“ ist das althochdeutsche Wort für „blendend“, und wirklich: bewegt sie sich, schillert ihre Haut wie das Gefieder eines Eisvogels. In der Schweiz wird sie auch „Kupferschlängli“ genannt.
In der ersten Augustwoche dieses Jahres, als der sonst kalte Sommer an wenigen Tagen wieder zu sich fand (den heftigen täglich über uns niedergehenden Platzregen vergessen wir jetzt einfach mal), hatte ich Besuch von meiner Freundin Barbara Echtler, einer Tierheilpraktikerin und Tierkommunikatorin aus dem bayrischen Rammingen, und ihrem Mann Klaus, einem unabhängigen Versicherungsmakler, Coach und Lebensberater.
Bei einem Spaziergang mit ihrem Hund Janka, fanden wir, beinahe schon in Sichtweite meines Wohnhauses – ich wohne für diese Gegend abgelegen zwischen Getreidefeldern und Waldrand – eine Blindschleiche. Sie lag am Rand der schmalen Teerstraße, die an meinem Wohnhaus vorbeiführt.
Unsere Blindschleiche mit einem ihrer Kinder. Foto: Barbara und Klaus Echtler
Die Schleiche schimmerte, aber sie wirkte matt, erschöpft, und irgendwie unförmig. Wir bückten uns zu ihr herunter, und in diesem Moment verstanden wir, warum ihr Bauch an einer Stelle so dick war; neben ihr schlängelten drei graublaue gerade geschlüpfte Blindschleichen herum. Die Mutterschleiche befand sich also inmitten eines Geburtsvorganges, doch ihr schien die Kraft auszugehen. Ihre Lider waren geschlossen, die gespaltene Zunge hing ihr aus dem Mäulchen. Klaus nahm sie vorsichtig in die Hand, sie widersetzte sich nicht mehr, und als er sie umdrehte, sahen wir eine Öffnung, wie einen Schnitt oberhalb ihrer Schwanzwurzel. Bei den Blindschleichen ist das letzte Drittel des Körpers der Schwanz. In diesem Bereich gibt es mehrere Sollbruchstellen, die es der beinlosen Echse ermöglichen, Teile des Schwanzes abzuwerfen. Dieser wächst verkürzt wieder nach.
Doch diese Blindschleiche reagierte auf keine Bedrohung mehr. Sie wirkte wie in einem großen Schlaf. Der Welt in Frieden entrückt.
„Ist sie verletzt?“, fragte ich Barbara mit wenig Hoffnung.
„Ich glaube sie ist tot“, gab sie mir zur Antwort und ich blickte auf die sich schlängelnden Mikadostäbchen neben ihr. Ihnen hatte sie gerade noch das Leben geschenkt.
„Sie hat noch Babys in ihrem Bauch, nicht wahr?“, fragte ich Klaus, der die Schleiche immer wieder drehte, um zu schauen, um nicht doch noch Leben in ihr ist. Vielleicht war sie einfach in einer Schockstarre. Doch ihre Lider sahen so aus, als hätten sie sich für den ewigen Schlaf auf immer geschlossen.
Klaus fühlte mit seinen Fingern über den dicken Bauch der Blindschleiche.
„Da sind noch welche drin, das glaube ich auch“, sagte er.
„Dann müssen wir eine Not-OP machen“, schoss es aus mir heraus, und ich erschreckte mich ein wenig, als Klaus und Barbara daraufhin stumm nickten.
„Ich hole einen Eimer, damit wir sie transportieren können. Unter einem meiner Büsche, in den Wurzelhöhlen, lebt schon eine Blindschleiche“, erklärte ich. „Dort können wir die Vier hinbringen, – und operieren.”
„Das ist gut“, antwortete Barbara. „Dann wissen wir, dass sie sich dort wohl fühlen werden.“
Unter meinem Busch mit den vielen Wurzelhöhlen hatte ich beim Wasserschöpfen aus meinen Regentonnen manches Mal eine große Blindschleiche gesehen. Sie lag dann da und schimmerte. Blindschleichen leben meist im Verborgenen, sind ungiftig, können Feinden kaum etwas entgegensetzen, doch wenn sie gut auf sich aufpassen, viel Wert auf Tarnung legen, dann können sie bis zu vierzig Jahre alt werden.
Meine Blindschleiche ist mir eine gute Gartenhelferin. Wenn sie in der Abenddämmerung und am frühen Morgen jagt, vertilgt sie mit Vorliebe Nacktschnecken und nachtklamme Insekten. Leider auch Regenwürmer, die ich als Gartenhelfer auch sehr schätze. – Aber die Schleiche will schließlich auch leben und braucht eine halbe Stunde, um einen Regenwurm zu vertilgen. Würde man ihr etwas von Fast Food erzählen, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach verständnislos mit dem eleganten Kopf schütteln.
Diese „meine“ Blindschleiche aus der Wurzelhöhle erinnerte mich an meine Kindheit: Auf den drei Komposthaufen meines Vaters lebten damals unzählige Blindschleichen. Ich beobachtete fasziniert und mit einem leichten Unbehagen – vor allem aber mit sicherem Abstand – ihr Gekreuche und Gefleuche. Ich hätte nie sagen können, wie viele sich auf dem Komposthaufen tummelten; sie waren so verschlungen wie das Leben, von dessen Vertracktheit ich damals noch nichts ahnte.
Mein Vater war glücklich über die Hilfe der Blindschleichen, die ihn wiederum an die eigene Kindheit erinnerten. Sein Vater war leidenschaftlicher Gärtner und Blumenkenner. Auch bei ihm halfen die Blindschleichen mit.
Das ging mir durch den Kopf, als ich den Eimer zu Klaus und Barbara trug. Hündin Janka stand brav neben den beiden.
Die drei kleinen Schleichen waren voller Leben und windeten sich, als wir sie auf unsere Handflächen nahmen und vorsichtig in den Eimer legten. Mich durchfuhr ein Schauer. Es ist etwas anderes, ob ich die oft kalte Haut meiner beiden Schildkröten Jurij und Elisabeta spüre, die mir so vertraut ist, oder das ungewohnte kalte Schlängeln einer beinlosen Echse. Wovor hatte ich Angst? Es ist das Ungewohnte, das einen zusammenzucken lässt. Zu selten lassen sich die Schlangen in unserem Leben blicken, und zu geheimnisvoll scheinen sie mir.
An allen drei Blindschleichen kann man den Dotterrest noch erkennen. Fotos: Barbara und Klaus Echtler
Ich bewunderte Klaus, der nun auch die große Blindschleiche nahm und sie zu den Kleinen in den Eimer legte. Schnell gingen wir die letzten Meter zu meinem Wohnhaus. Ich führte Barbara, Klaus und Janka zu der Stelle, wo die große Schleiche wohnte. Das grüne Moos inmitten der Wurzeln war nass vom vielen Regen. Als wir die kleinen Reptilien darauf setzten, verschwanden sie blitzschnell in den Löchern der Wurzelwohnung. Ich habe sie seitdem nie mehr gesehen. Es heißt, dass die Blindschleichen gemeinsam in frostsicheren Erdlöchern in einer Kältestarre den Winter verbringen. Hoffentlich leben die Blindschleichen sommertags auch so friedlich zusammen…
In der großen Blindschleiche war kein Leben mehr und ich fragte Klaus, ob er sie öffnen wolle, um die Babys zu retten.
„Ja, hast Du ein Messer?“
„Ja, habe ich, und Desinfektionsspray auch.“ Flink sprang ich auf meine Beine.
„Wenn jemand tot ist, muss man nichts mehr desinfizieren“, sagte Klaus. Ich nickte, hatte als Fernsehmuffel wohl zu wenig Krankenhausserien gesehen, und rannte im nächsten Moment los, ins Haus, um mein schärfstes Messer (auf meinem Weihnachtswunschzettel wird dieses Jahr ein japanisches stehen – für alle Fälle und Häute), Küchentücher und Rescue-Tropfen zu holen. Diese Tropfen bestehen aus Blütenessenzen, die man Tieren oder Menschen geben kann, wenn sie beispielsweise unter Schock stehen.
Ich hatte sie schon oft Vögeln aufs Gefieder getropft, die gegen die Scheibe meines Arbeitszimmers geflogen waren und wieder zu sich kommen mussten.
Drei Stufen auf einmal nehmend, sprang ich meine Holztreppe wieder hinunter und rannte zu Barbara und Klaus.
„Ich werde seitlich schneiden, um die Kleinen nicht zu verletzen“, sagte Klaus mehr zu sich, denn zu uns, als ich ihm das Messer reichte. Klaus drehte sich zu mir um.
„Andrea, schau doch mal im Internet nach, ob Du rausfinden kannst, wie Blindschleichen auf natürlichem Wege geboren werden. Vielleicht hilft uns das weiter.“
Ich rannte wieder nach oben, schaute in aller Eile nach, ob es Videos oder Beschreibungen von einer Blindschleichengeburt gab. War die Öffnung, die die Blindschleiche oberhalb ihrer Schwanzwurzel hatte eine Verletzung, oder gar der Ausgang für ihre Kleinen? In der Aufregung fand ich nichts. Ich stieß lediglich auf die Informationen, dass die Blindschleichen vierzehn Wochen, nach einer oft stundenlangen Paarung, ihren Nachwuchs zur Welt bringen, dass die Babys sich in einer Eihülle entwickeln, und in einer durchsichtigen Membran auf die Welt kommen, die sie sofort durchstoßen.
Acht bis zwölf Jungtiere bringt eine Blindschleiche auf die Welt, circa sieben Zentimeter sind die frisch Geborenen lang. Die Größe stimmte, also waren die kleinen Blindschleichen lebensfähig. Auch die Schlüpfzeit stimmte: zwischen Mitte Juli und Ende August kommen Blindschleichen zur Welt.
Mit meinen Notizen sprang ich wieder die Treppe herunter, diesmal nahm ich die vierzehn Stufen in einem Dreisprung.
Als ich bei Klaus, Barbara und der Blindschleiche ankam, hielt Barbara sieben weitere kleine Schleichen in der Hand. Sie hatten also schon operiert.
Wir legten sie in den Eimer, und gaben, verdünnt mit Wasser, einen Tropfen der Blütenessenzen hinzu, damit ihre Lebensgeister aufgeweckt würden. In drei von ihnen erwachte die Lebenskraft, und sie suchten sofort Unterschlupf in der Wurzelhöhle. Die anderen blieben auf dem Moos liegen.
Jetzt sah ich in Klaus’ Hand die Mutter der Babys. Klaus hatte sie in ein Küchentuch gewickelt. Sie war völlig zerschnitten, das Küchentuch rot gefärbt.
„War nicht schön“, war alles, was Klaus sagte.
Ich war traurig und stolz. Stolz auf Klaus und Barbara, die in meiner wohl geplanten Abwesenheit die Babys auf die Welt gebracht hatten. Das Messer anzusetzen hatte sicher viel Mut erfordert, denn hat man den Schnitt gesetzt, muss man die Sache schließlich zu Ende bringen.
„Wie lagen sie denn in ihrem Bauch?“, fragte ich.
Klaus suchte nach Worten. Er redete sehr langsam: „Wie in einem Strang. Ja, in einem Strang.“
Während ich auf die kleinen Schleichen und das rote Küchentuch blickte, fühlte ich mich der Schöpfung sehr verbunden. Auf einmal waren die Dinge, die im Leben wichtig sind, sichtbar und klar: Ich hatte miterlebt, wie Leben leben will, mit welcher Kraft sich die kleinen wehrlosen Schleichen gewunden hatten, selbstbewusst und kämpferisch. Ihre Mutter hatte, während ihre Kleinen ins Leben und ihre Bestimmung fanden, ihr eigenes verloren.
Ich musste an den Schäfer denken, dem meine Stute Lady und ich auf unserem diesjährigen Wanderritt durch die Eifel begegnet waren. Als wir ihn trafen, betrauerte er ein totes fünfzehnjähriges Schaf seiner 500-köpfigen Herde. Das Tier lag auf der Seite. Seine großen Augen waren geschlossen. Seine Wollhaare bewegten sich im Wind. An den Händen des Schäfers klebte noch Blut, denn wenige Minuten zuvor hatte er, direkt neben dem toten Schaf, einem Lamm auf die Welt geholfen.
„Leben und Tod liegen so nah beieinander“, sagte er und blickte uns mit seinen glasklaren blauen Augen an, als suche er Halt.
Er selber habe seine Frau ein halbes Jahr vorher verloren, erzählte er uns, und seine Augen fanden den gesuchten Halt für ein paar Momente in der Weite der Eifeler Landschaft. Dann sah er uns wieder an. Strähnen seiner grauen gepflegten Stirnhaare flatterten vor seinen Augen. Mit einer gewohnten Bewegung strich er sie mit der Hand zurück.
Die Schafe nahmen Abschied von ihrem toten Herdenmitglied. Sie defilierten regelrecht, blieben neben ihm stehen und hielten inne. Die jüngeren Tiere legten sich in einem Kreis um das verstorbene Schaf, eines legte sogar seinen Kopf auf den Bauch des toten Tieres. Könnte ich den Tod doch auch so annehmen, dachte ich, während ich Lady den Hals streichelte, und mir wünschte, sie wäre unsterblich (das ist sie, aber das ist eine andere Geschichte).
Nach einem langen Gespräch inmitten von Sonne, Wind und Wolkentürmen sagte der Schäfer zum Abschied: „Mit dem Tod müssen wir leben.“ Lady und ich, wir stimmten ihm schweigend zu und gingen talwärts in den nächsten Ort. Vorbei an wilden Orchideen.
Ich kochte Barbara und Klaus noch Tee und Kaffee für die lange Fahrt zurück nach Bayern. Unser Auseinandergehen war leise.
In den nächsten Stunden sah ich immer wieder nach den Blindschleichen, die sich nach ihrer Geburt nicht gerührt hatten. Noch immer lagen sie reglos da. Sie waren den Weg ins Leben nicht zu Ende gegangen. Durch ihren Körper würde sich niemals ein schimmerndes Schlängeln winden. Ich deckte sie mit einem Büschel Moos zu und versuchte das rätselhafte Miteinander von Leben und Tod zu begreifen. Doch so klug wie die Tiere bin ich nunmal nicht.
Genießen Sie, meine verehrten Leser, das Schimmern der Schlangen und Schleichen, wenn Sie Ihren Weg für ein paar Augenblicke kreuzen, und der Sinn des Lebens ist sicher nicht das Hadern, sondern das Leben zu leben wie es uns geschenkt wurde. In vollen Zügen, mit allen Höhen und Tiefen.
Wie immer herzlich
Ihre Andrea Klasen
Wer mehr über Barbara und Klaus Echtler erfahren will, hier der Weg zu ihren Homepages:
Startseite
http://www.klaus-echtler.de/