rosinenundperlen

Sein letzter Sommer

Beim Autofahren und Putzen höre ich mir fast immer die Zeitzeichen meiner Kollegen an. Heute ging es in diesem 14-minütigen Radiofeature um Slobodan Milosević, der am 15. Juli 1997 Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien wurde. Im März 1992 hatte der Bosnienkrieg begonnen. Wie viele andere Menschen habe ich damals entsetzt auf den Balkan geschaut.

Immer wenn die Erinnerungen an die schrecklichen Gräueltaten dort in meinem Gedächtnis wach gerufen werden, so wie heute, muss ich an den September 1991 denken. Da waren wir mit unserem Leistungskurs Englisch nach Italien gefahren. Warum wir diese Studienreise nicht in Großbritannien gemacht haben, weiß ich bis heute nicht.

Vielleicht, um diesen jungen Mann zu treffen, an den ich oft denke. Allabendlich nach unseren Exkursionen quer durch die Toskana saßen wir am Strand. Hinter uns die Marmorsteinbrüche von Carrara, meist mondbeschienen. Die Wellen rollten in immer gleichen Abständen am Saum des warmen Meeres entlang, und wir sprachen von der Zukunft, über unsere Wünsche und Träume, die wir erreichen und verwirklichen wollten, wenn das Abitur im nächsten Jahr erst geschafft war.

Jeden Abend, während wir dort saßen, kam ein junger Mann in unserem Alter dazu. Mit schönen langen Haaren und freundlichen Augen. Ein Bosnier. Er sagte nicht viel, malte mit seinen Fingern gedankenverloren Formen und Linien in den Sand, um sie dann gleich wieder mit dem Handrücken zu verwischen. Manchmal ergriff er kurz das Wort. Wir sprachen dann Englisch miteinander. Dann schwieg er wieder lange.

Auch an unserem letzten Abend kam er zur gewohnten Zeit zu unserer Stelle am Strand. Er sei auch mit Freunden da. Sie wollten ihren letzten Sommer genießen. Im Herbst müsse er zum Militär. In Jugoslawien sei alles aus den Fugen geraten. Er wolle sich jetzt verabschieden und uns alles Gute wünschen. Take care, passt auf Euch auf, sagte er, als er wieder ging und zu einem immer kleiner werdenden Punkt am Saum des warmen Meeres wurde. Bis wir ihn irgendwann gar nicht mehr sehen konnten.

Septembermorgen

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

der Abschied vom Sommer fällt immer schwer. Wie gut, dass es den Herbst gibt, als Brücke in die ganz dunkle Jahreszeit. Nach einer sternenklaren Nacht habe ich mich heute morgen um kurz vor sieben auf mein Fahrrad geschwungen und bin zu meiner Stute Lady gefahren. Durch magische Nebel- und Lichtstimmungen hindurch, und vorbei an den weiten Koppeln der Jungpferde, die ich schon den ganzen Sommer beobachtet habe. Als ich die Tiere heute in diesem verzauberten Licht am Ufer der Ruhr sah, flogen mir diese Worte zu:

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Wir träumen unter Bäumen.

Nachts, wenn alles schläft,

erschaffen wir unsere Welt.

Am Morgen dann, tragen die Nebelschleier unsere Geheimnisse davon.

 

 

 

 

 

 

Nichts kann alles sein

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

es gibt Orte, da gibt es nichts, und doch haben sie alles. Bidarray im französischen Baskenland ist so ein Ort. Hier sind die Berge der Pyrenäen noch nicht sehr hoch. Um die tausend Meter. Der Dorfkern von Bidarray liegt etwa hundert Meter über Seehöhe. Dort stehen nur wenige Häuser. Die Gehöfte und übrigen Häuser verteilen sich, mit guten Distanzen zueinander, weiter unten, auf den sanft geschwungenen Wiesen. Etwa siebenhundert Menschen leben hier.

Von der Hauptstraße kommend, führt eine Brücke ins „Zentrum“ von Bidarray, vorbei an einer Pâtisserie, die den hier typischen Gâteau basque, den baskischen Kuchen, verkauft. Sehr lecker. So klein ein französisches Dorf auch sein mag – wenn es etwas auf sich hält, hat es eine Pâtisserie.

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Die “Hauptstraße” von Bidarray. Im Hintergrund der Glockengiebel. 

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Die romanische Kirche am Eingang des Dorfzentrums. 

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Die Straße, die wieder hinunterführt.

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Die Pont Noblia, eine Brücke aus dem Mittelalter, die vormals von Pilgern genutzt wurde. Sie überspannt die Nive, die erst in den Fluss Adour und dann bei Anglet in den nicht weit entfernten Atlantik mündet.

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Das Restaurant Auberge Iparla. Abschussrampe ins Paradies.

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Jedes Dorf, das etwas auf sich hält, hat, wie schon gesagt, eine Pâtisserie und einen Pelotaplatz, wo das baskische Spiel “Pelota” ausgetragen wird. Zwei Spieler oder ein Zweierteam schlagen den Ball mit Schlägern, aber auch mit bloßer Hand, gegen eine Prellwand, Frontón genannt. Im weitesten Sinne erinnert dieser Traditionssport an Squash.

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Der Glockengiebel der romanischen Kirche in Bidarray.

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Das Restaurant “Barberaenea” neben der Kirche. Hier kann man gut essen und auch übernachten. Unter dem großen Ahornbaum steht irgendwie die Zeit still.

Von dort aus geht es ziemlich steil hoch. An der romanischen Kirche vorbei, die umringt ist von den Gräbern ihrer verstorbenen Bewohner. Schöner kann eine letzte Ruhestätte fast nicht sein. Im Hintergrund ragen die kegelförmigen Berge Richtung Himmel, die Wiesen sind immergrün, weil es im Baskenland feucht ist und heiß. Hier wachsen Feigenbäume, Oleanderbüsche riesigen Ausmaßes, Pfirsiche fallen einem vor die Füße und die Hortensien bringen Blüten hervor, die größer sind als menschliche Köpfe.
Tulpen und Rosen auf dem Friedhof von Bidarray aber sind künstlich.

Als wir im Ortskern von Bidarray stehen, komme ich mir vor wie in der Kulisse eines Western. Es gibt nur eine Straße. Der markante Glockengiebel der Kirche spielt mir Bilder in den Kopf und plötzlich weht mir ein Wind entgegen, meine Frisur hebt sich unmerklich, und die Haare an den Armen werden kurz durchgekämmt. Dann wieder Hitze und Stille.
Bidarray hat nicht viel, aber es hat alles, was man braucht: Betritt man die finstere Kirche, ist plötzlich eine Kraft da, die mich erfrischt, die Wurzeln unter meinen Füßen wachsen lässt, der Duft der Lilien, die den Altar schmücken, steigt mir in die Nase. In der Dunkelheit des Kirchenschiffes schließe ich die Augen, und höre meinen ruhigen Atem. Hier wohnt jemand, der sagt: „Alles entsteht aus der Stille heraus.“
In dieser Kirche gelange ich in eine Zeitnische, die mir alle Schwere nimmt. Draußen spricht ein Ehepaar miteinander. Als sie das Gotteshaus betreten, verstummen sie und werden von der Dunkelheit verschluckt. Eine Dunkelheit wie eine warme Decke.
Bidarray hat nicht viel, aber das Wichtigste. Man wundert sich, warum überhaupt Menschen hierher kommen. Gut, von hier aus führen Wanderwege in die Berge. Etwa der GR 10, der durch Bidarray führt, und die Pyrenäen weiter nach Spanien durchquert.
Und – Wanderer sind immer hungrig. Vielleicht gibt es aus diesem Grund zwei sehr gute Restaurants hier im Ort. Sie liegen kaum hundert Meter voneinander entfernt.
Wir waren letzten Freitag in der Auberge Iparla, nach dem Gipfel benannt, den der Gast von der Terrasse aus sehen kann.
Menu haben wir gegessen. Die Speisen waren so raffiniert verfremdet, dass wir während des Essens gar nicht mehr wussten, was wir eigentlich bestellt hatten. Das Doradentartar sah aus wie silberne Kerne von Granatäpfeln. Dazu eine Avokadocrème, der Chorizo ist eine riesige Scheibe, die angeschmort daher kommt, flankiert von Frischkäsehäubchen und Linsen in Zucchiniröllchen.
Die Hauptspeisen: Stockfisch so zart wie eine Mousse und doch ganz Fisch, dazu Fenchel. Stilisierter könnte man ihn kaum zubereiten. Er schmeckt süß, vielleicht Schalotten, denke ich, ist aber auch egal, weil ich längst nicht mehr weiß, welcher Wochentag ist, wann ich Geburtstag habe und was wir bestellt haben. Das Steak medium, so wie „medium“ gemeint ist. Auf den Punkt mit großen frittierten Kartoffeln und einem Dip aus Käsegeschmäckern, der alle Noten baskischer Schimmelkäsenuancen in einer einzigen Käsecrème vereint und in einer einfachen Steingutschale serviert wird.
L’entrecôte de Boeuf grillée, grosses frites maison et crèmes de bleue de basques kommt daher wie ein ungehobelter Gaucho mit Schlangenlederstiefeln und Mohairponcho.
Die Dunkelheit hat jetzt auch die Berge umschlossen. Es ist immer noch warm auf der prall gefüllten kleinen Terrasse. Alles Franzosen, außer uns. Wir haben vorher die Speisekarte fotografiert – die sämtlicher Lokale – um uns das Vokabular der französischen Küche einzuverleiben. Wir kennen nun jeden Speisefisch, wissen um die Varianten, sie zuzubereiten, haben herausgefunden, was „à la plancha“ ist und dass es jeunes pousses – jungen Chicorée – auch bei uns gibt und doch wieder nicht.
Die Gäste an den Nebentischen stoßen an, chin chin, baskischer Wein, Wein aus Bordeaux, die Frau am Nebentisch signalisiert dem Kellner, dass er einschenken kann. Unser Dessert kommt: Mit so etwas hatten wir beileibe nicht gerechnet. Una bomba, ein Gedicht, der Beweis, das Gott existiert: Le Crémeux au chocolat noir mi-amer avec noix de pécan caramélisées et crumple spéculoos avec de la glace caramel au beurre salé et chantilly au praliné ist angerichtet in einem ganz gewöhnlichen Glas. Doch unten befindet sich flüssiger warmer Schokoladenkuchen, darüber eine Kugel Eis: jenes hier beliebte caramel beurre salé – Karamelleis mit Butter und einem Hauch von Salz. Wer jetzt Widersprüche sucht, wird keine finden in diesem Zauberglas. Die Eiskugel verschmilzt mit dem Mousseähnlichen Schaum, darin karamellisierte Pecannüsse und eine zerbrochene Praline, die in den Schaum hinabsinkt und darin elegant zerschellt.
Diese Terrasse in Bidarray ist die Abschussrampe ins Paradies.

Als wir zurück zum Auto gehen, kommen wir an dem zweiten Restaurant vorbei. Völlig unscheinbar unter einem riesigen Baum verborgen, aber die Karte verspricht Göttliches. Abfotografiert haben wir sie schon. Wir wollen zum Abschluss unseres Urlaubes mal dorthin gehen. Vielleicht aber auch wieder in die Auberge Iparla. Mal sehen.
Auf dem Parkplatz drehe ich mich noch einmal um: der Staub, den unsere Schritte kurz aufgeweckt haben, sinkt schläfrig wieder zu Boden. Die Kirchturmuhr schlägt zehn, die Grillen lassen die Luft vibrieren und unten im Tal funkeln die Lichter der Häuser. Der Geruch der Kühe weht zu uns herüber. In Bidarray findet man alles.

Der Kindermund und die Wahrheit

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

ich möchte Ihnen heute von einer Begebenheit erzählen, die mich sehr berührt hat. Als ich neulich meine beiden Schildkröten zu Freunden bringen wollte, wo sie während meiner Reise nach Berlin wohnen konnten, machte ich einen Zwischenstopp bei meiner Schwägerin und ihren beiden Söhnen. Mein jüngster Neffe schlief friedlich in seiner Wiege; er ist erst wenige Wochen alt. Mit seinem älteren Bruder – gerade vier geworden – ging ich an die Hauswand, wo die Schildkröten in einer großen Plastikwanne die warmen Sonnenstrahlen genossen. Ich stellte die beiden Tiere meinem Neffen vor: “Das ist Elisabeta, und das ist Jurij.” Er sah mich an und strahlte: “Einen Jurij haben wir im Kindergarten.” “Oh”, antwortete ich, “ist das ein Russe?” Mein Neffe sah mich an, blickte dann zu Boden, und ich spürte in seinem Zögern, dass er gerade dabei war, das Echo meiner Frage einzufangen, um festzustellen, ob er richtig gehört hatte. “Nein”, sagte er, und hielt den Blick noch immer gesenkt. “Das ist ein Mensch.”

Mit dieser Antwort lasse ich Sie nun allein.

Es grüßt Sie wie immer herzlich

Ihre Andrea Klasen

Nur für eine Nacht

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

es ist unverzeihlich, dass ich so lange nichts für meinen Blog geschrieben habe, obwohl es mir ein so großes Vergnügen ist, die alltäglichen Schreibarbeiten für die berühmten Brötchen mit Butter einmal an den äußersten Rand des Schreibtisches zu schieben, um mich in eine Zeitnische zu begeben, die jedes Mal sehr belebend und Kraft spendend ist. Vielleicht versperren mir mein Pflichtbewusstsein und meine Disziplin oft den Weg in diese Zeitnische. Als freiberufliche Autorin will man fertig werden mit Aufträgen, um neue zu beginnen. Das Expresspony muss sozusagen immer galoppieren und nach einer bestimmten Streckendistanz ausgetauscht werden; aber heute möchte ich an einer der Poststationen Rast machen, um Ihnen, meine verehrten Leser, von anderen Zeitnischen zu erzählen und von Wesen, die der Vergänglichkeit noch viel stärker unterworfen sind als wir Menschen, und die aus diesem Grund ihre ganze Schönheit für nur eine Nacht entfalten.

In der letzten Woche habe ich mir einen großen Traum erfüllt. Ich bin mit meiner Wunschliste endlich in eine Gärtnerei für Heilpflanzen, Duftkräuter und Küchenkräuter gefahren. Es gibt nicht viele Gärtnereien, wo man seltene Heilpflanzen bekommt, und deshalb lenkte ich mein Auto bis an den Rand des Ruhrgebietes, dahin, wo sich bereits die Münsterländer Felder sanft um einsam gelegene Gehöfte schmiegen, und große Bäume die Wege säumen. Ich fuhr zur “Kräutermagie Keller” nach Datteln. Durchfahre ich das Münsterland, dann verliere ich schon bald die Orientierung, weil die Landschaft so flach ist, schmale Wege ins Nirgendwo abgleiten, und seltsam klingende Straßenschilder zu noch nicht sichtbaren Häusern führen. Im Münsterland fährt man selten durch Orte; man fährt durch die Welt dazwischen. Ich empfinde das als sehr angenehm, weil ich Ballungsräume nicht mag, und mich gerne in Landschaften verliere. Das Münsterland kommt mir immer vor wie ein riesiges Getreidefeldlabyrinth.

“Jetzt rechts abbiegen”, forderte mich Fräulein Mayer, die Dame, die in meinem Navigationsgerät wohnt, auf. Ich bog ab in einen unbefestigten Feldweg, flankiert von schaukelnder Gerste. Ich war plötzlich wieder in einer Zeitnische. Meine Nachbarin, auch eine große Gartenfreundin, die mich begleitete, sagte: “Da sind die Gewächshäuser, wir sind da.” Auf einem Rasenstück parkte ich meinen Wagen. Als wir ausstiegen, war die Luft ganz still. Ein Windhauch wehte uns streichelnd um die Köpfe, und schien uns von überflüssigen Gedanken befreien zu wollen. Wir durchschritten das Tor der Gärtnerei. Niemand war dort, außer den wartenden Kräutern und drei Gärtnern, die in Stille Pflanzen pikierten. Ich kam mir vor, als stände ich in einer Kirche. Die Kräfte der Kräuter wirkten hier. Zusammen enthielten sie alle Zutaten dieser Welt. Eine der Gärtnerinnen kam auf uns zu und begrüßte uns so, als seien wir in eine Welt getreten, die nicht für alle auffindbar ist.

“Hier draußen finden Sie heimische Kräuter, die winterharten. Im Gewächshaus sind die exotischen Kräuter. Schauen Sie sich in Ruhe um.” Sie nickte uns zu, und verschwand mit der Eleganz eines Mönches, dessen Kutte spielerisch über den Boden fegt. Wir atmeten tief durch, und konnten unser Glück kaum fassen, hier gelandet zu sein. Das war das Paradies. Hier blieb kein Wunsch offen. Schnell füllten sich unsere Körbe, wir nahmen einen zweiten, stellten die vollen auf den Tisch vor der Lodge ähnlichen Hütte, und die Gärtnerin fragte, ob sie schon beschriften dürfte. Ich fragte sie nach der Nachtkerze. Ich wusste selber nicht, warum ich mich zu dieser Pflanze so hingezogen fühlte. “Möchten Sie die zweijährige oder die mehrjährige?”, fragte sie mich. “Die mehrjährige wächst hier wild, dann würde ich Ihnen eine ausbuddeln.” “Wo ist denn der Unterschied?”, fragte ich und fand den Gedanken wunderbar, dass man hier auch wilde Pflanzen ausbuddelte. “Aus der mehrjährigen können Sie Öl machen.” “Oh, dazu habe ich keine Zeit”, erwiderte ich ein wenig geknickt, weil ich eigentlich von einem Leben als Kräuterhexe träume. “Das wird dann schon noch kommen”, antwortete sie prophetisch. Mhmm… Doch ich entschied mich für die zweijährige, vielleicht, weil ich in diesem Moment nicht wusste, wie ich das Expresspony zügeln sollte, wenn das Öl hergestellt werden will. “Die zweijährigen finden Sie dort hinten.” Ich ging los, und sie dirigierte mich von den Körben aus. “Jetzt stehen Sie genau davor”, rief sie lächelnd. Ich schaute hinunter. Da war sie also, die Nachtkerze. Sie bestand aus nichts weiter als einem einzigen Stängel mit länglichen Knospen. Es braucht nicht viel, um die Welt zu betören. Ich stellte sie vorsichtig in meinen Korb. Meine Nachbarin suchte sich die Kräuter zusammen, die sie für ihre Frankfurter grüne Soße benötigte. Wir gingen weiter die Reihen entlang, unter unseren Füßen den großen Kies. Noch immer drang kein Geräusch von außen in diese Gärtnerei. Hier wurde die Sprache der Kräuter gesprochen, die in aller Stille wirkten. Diese Stille befand sich nicht auf dem Kassenzettel, aber man nahm sie mit. Wir bezahlten und fuhren beglückt zurück.

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All die wunderbaren Kräuter: Frauenmantel, Barbarakraut, Katzenminze, römische Rasenkamille, Kapuzinerkresse, Baldrian für meine oft hysterische Katze, Bulbine, Majoran, Estragon, Kampferkraut, Eisenkraut und Weihrauch.

Zuhause angekommen pflanzte ich meine Kräuter ein. Einige hatte ich als Futterpflanzen für meine Schildkröten gekauft, denn sie sollen in ihrem Freigehege selbst bestimmen, was sie essen möchten. Elisabeta hatte sich zudem gewünscht, unter einer großblättrigen Pflanze zu sitzen. Ich fand, dass der Frauenmantel mit seinen wunderschönen Tautropfen Elisabeta ein grünes Dach sein könnte. Die Nachtkerze pflanzte ich neben das Kampferkraut.

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Die Nachtkerze im Ganzen

Als ich gestern Abend zurück von meiner Stute Lady kam, sah ich, dass sich eine ihrer Knospen geöffnet hatte. Sattgelb war die Blüte, und als ich mich langsam über sie beugte, um an ihr zu riechen, da schlug mir ein Duft entgegen, der den Duft aller Blumen vereint. Der Duft der Nachtkerze ist das Brennglas aller vorhandenen Blumendüfte, aus allen Kontinenten. Meine Nachtkerze verströmte ihn verschwenderisch, und an ihren zarten Blütenblättern zerrte der kalte Wind, der an diesem Abend über das Land blies. Nur für eine Nacht würde sie blühen. Sie sucht nicht das Sonnenlicht, nicht die Helligkeit und die hungrigen Bienen. Die Nachtkerze liebt den Mond, die Bewegungslosigkeit der dunklen Stunden, und es sind die Falter, die sich auf ihrer Blüte niederlassen und sie bestäuben. Ich setzte mich neben die Nachtkerze und schlug die Jacke um meine Schultern. Schlafengehen wollte ich nicht, weil ich wieder und wieder diesen Duft atmen wollte. Den Duft, der alles ist.

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Meine Nachtkerze

Ich erinnerte mich an eine Nacht in Hetzhof, einem winzigen verwunschenen Ort meiner Kindheit, wo viele Verwandte von mir wohnten, und wo ich viele Sommer verbracht habe, gemeinsam mit meinen Großeltern oder meinem Vater. Hetzhof liegt in einem Seitental der Moselregion. Dort fand ich als Kind alles, was ich suchte. Das Landleben in seiner Friedlichkeit und seiner Stimmigkeit. Tagsüber streifte ich durch die Natur des Sackgassenortes, abends half ich beim Kühemelken, und am Ortseingang stand die Villa von Fräulein Jammin, die unter hohen Bäumen klassische Musik hörte. Eine meiner Großtanten, die dort mit ihrem Mann lebte, besaß einen wunderschönen Nutzgarten, der eingefasst war mit Stauden und Bienenpflanzen. Tante Maria und ihr Mann Karl lebten für diesen Garten. Maria trug sommertags nichts weiter als einen weißen Kittel und feste Schuhe. Sie kochte wie eine Göttin und nährte wie eine Mutter. Lag ich in meinem Zimmer, unter den sich aufbäumenden Oberbetten, in denen die Federn tanzten, und hörte, wie sich die Erwachsenen unter meinem Fenster in der Sommernacht unterhielten, dann schlief ich selig ein, und dankte den Grillen, die der Sommer waren.

An einem Abend durfte ich länger aufbleiben. Tante Maria hatte Freunde und Bekannte aus dem Dorf eingeladen. Es gab guten Wein, für mich Holundersirup, Brot, Käse und selbst gezogene Pfirsiche, und wir saßen alle um den Gartentisch herum und schauten auf den Hauptdarsteller dieses Abends. Einen faden und ungeordnet wirkenden Schlangenkaktus, mit seltsam verdrehten Armen, der sich nun in eine “Königin der Nacht” verwandeln sollte. Tante Maria hatte die Pflanze schon die ganzen vergangenen Tage beobachtet, und als am Nachittag ihre Knospen anschwollen, wählte Tante Maria eilig die Nummern ihrer Freunde im Dorf: Es sei soweit.

Da saßen wir nun. Es wurde dunkler, die Blätter der Kastanie rauschten im Nachtwind, und die zehn Blüten des Kaktus’ begannen, sich zu entfalten. Tante Maria nickte leise. In einer fließenden Bewegung gab der Schlangenkaktus sein Wesen preis. Ich hörte das Knistern der sich öffnenden Blüten und plötzlich strömte ein Duft aus Vanille und Schokolade aus diesen großen Blüten. Im nächsten Moment kamen die Nachtfalter und berauschten sich an ihrem Duft. Der Schlangenkaktus war zu einem Naturwunder geworden. Er flüsterte mir zu, dass es im Leben nicht auf Äußerlichkeiten ankomme, sondern das vordergründig Unscheinbare zu strahlen beginnt, wenn wir es mit Liebe betrachten.

Die Erwachsenen saßen noch lange beim Kaktus, während ich unter der hohen Bettdecke über das nachdachte, was der Kaktus gesagt hatte. Dann schlief ich traumlos ein. Am nächsten Morgen stand Tante Maria mit einer Tasse heißer Schokolade im Türrahmen, als ich aufwachte. Sie kannte die Momente des Übergangs. Ich nahm einen Schluck, leckte mir die dicke Sahne von den Lippen, und ging hinunter auf die Terrasse. Dort standen die leeren Weingläser, Brotkrümel bevölkerten den Tisch und daneben der Schlangenkaktus, dessen Blüten nun welk waren. Schlaff hingen sie herab. Der Duft von Vanille und Schokolade war verflogen. Ich aber wusste nun, dass alle Schönheit in ihm wohnte, auch wenn sie nicht immer sichtbar war. Nach diesen Sommerferien fuhr ich als eine andere zurück nach Hause. Vielleicht spricht mich meine Nachtkerze aus diesem Grund so an.

Verehrte Leser, ich werde nun noch einmal hinaus in meinen Garten gehen, um ein letztes Mal an der Blüte meiner geliebten Nachtkerze zu riechen, bevor sie am Mittag verblüht.

Genießen Sie die Pflanzen und Blumen, vor allem die, die man erst auf den zweiten Blick sieht, und die landläufig als “Unkraut” bezeichnet werden.  Ich möchte dieses Wort schon lange als “Unwort des Jahres” vorschlagen.

Herzlich Ihre

Andrea Klasen

Wer die stille Gärtnerei in Datteln besuchen will, hier die Adresse:

http://www.kraeutermagie-keller.de

 

 

Nur zur Weihnachtszeit…

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Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

man könnte vernünftig sein und alle Weihnachtsgeschenke schon im Oktober kaufen, oder sie gar während des gesamten Jahres über sammeln. Doch käme man dann in Weihnachsstimmung? Muss es nicht so sein, dass man, eingezwängt in dicken Daunenjacken, in endlosen Schlangen völlig überheizter Kundenräume der Deutschen Post steht, bepackt mit sperriger Weihnachtspost, vom eigenen Schal stranguliert, man die sonst lebensrettende Wollstrumpfhose und Angora-Unterwäsche in dieser Hitze verflucht, während man nach seinem Geldbeutel sucht, der doch in einer der unübersichtlichen Taschen der Winterjacke sein muss? Und ist es nicht so, dass an vielen Orten kurz vor Weihnachten ein gemeinsamer Geist spürbar ist? Ein Geist der Zusammengehörigkeit, ein Geist der Schönheit? Ein Geist der Vorfreude?

Als ich vorhin mein Auto betankte, um genug Treibstoff für die Fahrt am Samstag zu meinen Eltern in meine geliebte Heimat Wittgenstein zu haben, da wünschte ich meiner Tankwartin “zauberhafte Weihnachten”. Sie gab mir den Kassenzettel, als eine muffige Geruchs-Schwade ihres feucht gewordenen Hundes, der immer unter dem Tresen schläft, zu uns heraufstieg, im Radio auf WDR 5 ein Bericht über das zerstörte Aleppo lief, und sie antwortete: “Das wünsche ich Ihnen auch. Eine gesegnete Weihnacht. Und dass wir noch lange in Frieden leben dürfen.” Ich nahm mein Portemonnaie von der BILD-Zeitung herunter, die nach dem Anschlag in Berlin mit großen Lettern titelte: ANGST und antwortete ihr: “Das wünsche ich mir auch. Dass wir noch lange in Frieden leben dürfen.” Wir nickten uns zu und ich ging durch den Schlauchraum Richtung Tür. “Gute Fahrt”, rief sie, und das sagt sie immer zum Abschied, und jedes Mal denke ich dann: “Sie weiß doch, wo ich wohne. Zwei Kilometer entfernt von ihrer Tankstelle?!” Ihr Abschiedssatz verwirrte mich jedes Mal ein wenig. Sollte ich statt der zwei Kilometer zu meinem Wohnhaus lieber raus in die Welt fahren? Etwas nachdenklich verließ ich jedes Mal eilig den Verkaufsraum, um nicht mit meiner Abenteuerlustlust konfrontiert zu werden.

Diesmal jedoch blieb ich stehen, während sie mir eine “Gute Fahrt” wünschte, und drehte mich noch einmal zu ihr um. Sie war so klein, dass sie hinter dem Tresen fast ganz verschwand. Durch ihre großen Brillengläser sah sie mich an. Ich wollte hier für immer stehenbleiben, weder zu meinem Wohnhaus, noch in die Welt. Das erste Mal fühlte ich mich wohl in diesem engen Schlauch. Meine Füße standen fest auf dem Boden und die Zehen waren zu ihr gedreht. Der Verkehr draußen war nur noch ein entferntes Rauschen, und ich hatte auf einmal das Gefühl, dass meine Tankwartin mehr als nur Benzin und Diesel in ihren großen unterirdischen Tanks lagert, und dass ihr kleiner in die Jahre gekommener Verkaufsraum vielleicht mehr als ein nach feuchtem Hund riechender Ort ist. Noch immer sah ich sie an. “Gott schütze sie”, sagte sie zu mir, und ich spürte, wie ein Schauer durch meinen Körper lief. “Ja, Gott schütze Sie auch”, hörte ich mich sagen, und ärgerte mich über diesen Satz, den auszusprechen mir irgendwie nicht zustand. Es war ihr Satz und ich sollte nur empfangen. Ich schlug die Augen nieder, und als ich meinen Blick wieder hob, stand sie nicht mehr hinter ihrer Verkaufstheke. Nur noch der Duft ihres Hundes war übrig.

Kurze Zeit später betrat ich unseren Ergster Geschenkeladen. Ich wollte noch zwei Geschenktaschen und eine Weihnachtskarte kaufen. Ich fand eine, auf der Kinder in einer kalten Adventsnacht ein Reh füttern. Die nahm ich. “Das ist aber eine schöne Karte”, sagte die Verkäuferin zu mir, die ich sehr mag, weil sie eine wundervoll wärmende Stimme hat und bunte Jacken mit riesigen Bommeln trägt. “Die Karte ist für meinen Zeitungszusteller. Ich habe ihn noch nie gesehen, aber ich schenke ihm jedes Jahr etwas zu Weihnachten.”

“Danke, Ihr Zusteller”, schreibt er dann immer auf die Zeitung, und ich stelle ihn mir als einen älteren Mann vor, weil seine ungelenk staksenden Buchstaben aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Das erzählte ich der netten Verkäuferin, und sie stützte sich auf den Verkaufstisch. “Das ist Weihnachten, oder? Und kaum jemand macht noch solche Dinge. Es herrscht nur noch Rücksichtslosigkeit. Ich habe hier mit so vielen Kunden zu tun…” Sie schüttelte den Kopf und ich nickte. “Ich glaube weiterhin daran, dass die Menschlichkeit uns zu Menschen macht”, antwortete ich ihr. “Ich werde mich nicht ändern, und immer versuchen, die Wärme, die uns der liebe Gott mitgegeben hat, anderen zu schenken, wenn mir das möglich ist.” “Machen Sie das”, sagte sie zu mir. “Ihr Zeitungsmann wird sich sehr freuen. Das weiß ich, weil ich früher selber Zeitungen ausgetragen habe. Bei Regen, bei Glatteis, bei Sturm und bei Schnee.” Sie sprach leiser weiter:”Das ist ein Scheißjob.”

Ich packte die gekauften Dinge in meine Tasche, rückte meinen verutschten Schal zurecht und sah meine Verkäuferin an: “Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.” “Ich wünsche Ihnen auch ein wunderschönes Fest. Dann bis zum nächsten Mal.”

Ich trat aus dem Laden heraus und seufzte glücklich. Eine vorrübergehende Frau meines Alters lächelte mich an. Es war ein Lächeln, mit dem man nur kurz vor dem Fest andere Menschen anlächelt.

Nie, niemals nie und nimmer werde ich meine Geschenke im Oktober kaufen, nahm ich mir wieder einmal vor, während ich zurück zu meinem Auto ging.

Von Herzen, meine lieben treuen Leser, wünsche ich Ihnen ein gesegntes Weihnachtsfest. Kommen Sie zur Ruhe, denn dann spürt man überall die Flügelschläge der Engel. Im Verkaufsraum einer Tankstelle oder in einem Schreibwarenladen mitten in Ergste.

Herzlich, Ihre Andrea Klasen

 

 

 

 

 

 

 

 

Lieber Sommer – Abrechnung einer unerfüllten Geliebten

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

nun umflirrt sie uns, die Sahara-Hitze. Ein bisschen spät wie ich finde. Deshalb schreibe ich an dieser Stelle, am 24. August des Jahres 2016 einen Brief an den Sommer. Betreff: Was fällt Dir eigentlich ein?!

Lieber Sommer,

nun bist Du da. Und tust so, als wärst Du nie weg gewesen. Und ich falle Dir, dumm wie eine unerfahrene Göre, um den Hals. Wochenlang hast Du mich gefrieren lassen und doch habe ich Dich vermisst… Und nun kommst Du mit voller Wucht. Das ist Dein Wesen. Ginge es nicht auch mal langsam steigernd? Dein Kommen ist immer genauso abrupt wie Dein Gehen. Und ich weiß nie, wann ich Dich wiedersehe.
Deine Gespielinnen, die Grillen, die lässt Du zirpen, damit ich die Erinnerung an Dich auch in der kältesten Sommernacht nicht vergesse. Während dieser betörenden Grillen-Konzerte blicke zu meinem Quittenbaum.
Ich frage mich ernsthaft, ob die sieben Früchte, die an ihm hängen, so hart sein werden wie in all den Jahren zuvor, oder noch härter, weil sie schlicht erfroren sind und ich eine Motorsäge brauchen werde, um die zur Faust geballten Früchte zu öffnen.

Lieber Sommer, bilde Dir bloß nicht ein, ich hätte an Deiner Abwesenheit gelitten. Zwischendurch dachte ich, dass ich auch gut ohne Dich leben könnte, und diese ewige Sehnsucht nach Dir über Bord werfen kann.
Furchtlos bin ich im Juli bei 13 Grad Celsius im 23 Grad kalten Wasser des Elsebades geschwommen. Bei Nieselregen, der im 45°-Winkel zur Erde niederging. Ich war die einzige im Bad. Ich habe die Zähne schlotternd zusammen gebissen, als ich aus der wohlig warmen Dusche hinaus in die sommerliche Kälte getreten bin. Wo warst Du da? Ich hätte Dich gebraucht!
Unter schwarzen Wolken bin ich meine Bahnen gekrault, bloß nicht stoppen, dann wird der nasse Kopf so kalt. Dann spürt man die Nieren so sehr, und die kalten Füße, mitten im Hochsommer.
Weißt Du, Sommer, Ende Mai, da hatte ich noch Hoffnung, dass Du bald wieder da sein wirst. Und bleibst. Als ich an einem Vormittag im Elsebad schwimmen wollte, da schaute ich auf die mit Hand geschriebene Infotafel am Eingang des Bürgerbades und sah nur eine Zahl: 27.5 stand da. Mein Herz machte einen Sprung: Du bist da, fuhr es wie ein zitternder Schauer durch mich. Komisch war nur, dass mein Außenthermometer, – etwa zwei Kilometer vom Bad entfernt -, eine ganz andere Zahl angezeigt hatte. Eine viel kleinere. Na ja, die Klimaerwärmung, dachte ich, ist vielleicht erst bis zum Elsebad vorgedrungen. Durch die Felder bis zu mir dauert es sicher noch. Strahlend sah ich die Kassiererin an: „Dass es hier so warm ist!“
„Nein, nein“, erwiderte sie. „Das ist doch das Datum von heute. Drunter stehen die Werte: Wasser 21, Luft 19 Grad.“ „Ach so.“ Nur mit Mühe konnte ich meine Tränen zurück halten. Wie die Wellen einer empörten See wollten sie durch die Kaimauer brechen.
Wie kannst Du meinen Geist so verwirren, Du treuloser Sommer? Mich in eine solch peinliche Lage bringen? Ich sehe schon rosarot. Damit Du es weißt: An diesem Tag bin ich viel getaucht, weil das Wasser ein klein wenig wärmer war als Deine Luft.

Lieber Sommer, ich soll Dir auch herzliche Grüße von meinen Schildkröten bestellen. Sie sind enttäuscht! Statt dass sie täglich in Deinen Strahlen baden, pfeift ihnen wochenlang der Wind um die kleinen Köpfe. Sie konnten nur noch eiligst Zuflucht in ihrer unterirdischen Höhle finden, wussten nicht, ob Du überhaupt nochmal wiederkommst, ob sie eine Übersiedlung nach Griechenland vorbereiten sollen, oder lieber doch nur einen verfrühten Winterschlaf einleiten.
Mein lieber Sommer, sag mal, bist Du noch ganz bei Trost? Wie kannst Du die Schildkröten so verprellen? Sie brauchen Dich, sie leben in den warmen Monaten von der Fülle der Welt. Sie drehen jedes Blatt dreimal um, berauschen sich am Duft der Blüten und genießen die Schönheit der warmen Monate. Von was sollen sie denn träumen, wenn sie ab November Monate im Kühlschrank liegen? Mit welchen wohligen Erinnerungen sollen sie diese karge Zeit des Winterschlafes überstehen? Und jetzt erschreckst Du sie mit dieser Flimmerhitze. Auch sie brauchen eine langsame Steigerung, um in Stimmung zu kommen. Sie sind doch keine Schnellkochtöpfe!

Lieber Sommer, ich soll Dich auch von meinen Rosen fragen, ob Du sie noch alle hast?!
Wochenlang haben sie sich auf ihre Blüte vorbereitet, vorsichtig die fragilen, betörend duftenden Knospen geöffnet, und als sie Dir mit aller Vorsicht ihre Zerbrechlichkeit entgegenstreckten, da war da nichts mehr als eine eisige Brise, ein schüttelnder Wind, der sie zweifeln ließ, ob sie überhaupt im richtigen Film sind. Biorhythmus, sagst Du, sei überholt? An was sollen wir uns denn sonst noch festhalten, wenn die Welt dabei ist, aus den Fugen zu geraten? Du verprellst langsam mein Vertrauen. Auch eine Geliebte braucht ein wenig Beständigkeit.

Apropos „richtiger Film“. Mein lieber Sommer, ja, Du weißt, dass Du unzuverlässig bist, wankelmütig, komm’ ich heut’ nicht, komm’ ich morgen. Ist schon klar. Dennoch hast Du ein Gespür dafür, wann Dein Erscheinen wichtig für den weiteren Verlauf unseres Verhältnisses ist. Am 5. August war Kinonacht im Elsebad, und siehe da, Du hast alle Register gezogen, mir und uns einen Überraschungsbesuch abgestattet, obwohl Gewitter und windige Schauer gemeldet waren. Im richtigen Moment hast Du Dich mal wieder sehen lassen, und uns eine sternenklare Nacht beschert. Die Nacht des 5. August war eine, in der ich wieder an Dich glauben konnte, ich konnte Dich spüren, wenn ich meine Hand nach Dir ausgestreckt habe, Du warst warm, Du warst gut gelaunt und Du sagtest: „Man lebt im Augenblick.“ Ich nahm Deine Hand, während auch der zweite Teil des Filmes weiter unter freiem Himmel gezeigt werden konnte, und glaubte wieder an das Glück. Dass Augenblick auf Augenblick folgt und Du mich niemals verlässt. Doch am nächsten Morgen war da nur eine kühle Kuhle auf dem weißen Laken und ich wieder allein.

Und wieder beginnt das Warten: Das kann doch nicht alles gewesen sein.
Ja, mein lieber Sommer, das Warten verlangst Du uns ab. Eine Geliebte, der die Geduld für das Warten fehlt, ist nichts für Dich. Du brauchst eine Frau, die zu Dir steht, im Sturm, im Regen und im prasselnden Schauer, der auch mal zwei Stunden dauern kann. Eine mit Durchhaltevermögen, eine, die Dir alle Freiheiten lässt. Die glaubt und hofft und weiß. Die weiß, dass sie vergeben, aber nie vergessen kann.
Aber was ändert das? Die Hoffnung ist mein Elixier. Ich bin eine ratlose Geliebte.
Ich könnte Dich mit dem Herbst betrügen oder den Winter heiraten. Doch Du hast mir das Mittelmaß abgewöhnt, und ich verachte die Bescheidenheit, seit wir uns begegnet sind.
Aber weißt Du was? Wenn ich richtig wütend bin, dann hört diese Verblendung auf, dann nehme ich die rosa Brille ab und verfluche Dein hitziges Temperament, Deinen extremen Charakter, Deine müde machende Stickigkeit am Mittag und Deinen verbrauchten Atem am Abend.
Doch wie liebe ich Dich wieder am Morgen…
Aber wie viele liebliche Morgen hast Du mir denn eigentlich geschenkt? Wenn ich die Tür aufgemacht habe, um meine Zeitung zu holen, da schwirrten nur kalte Moleküle umher, und nur die aufgeplusterten Vögel sangen noch vom Sommer.
Und wie traurig ist es, wenn man im Juli Dahlienzwiebeln kauft, auf der Packung steht, dass man sie nach dem ersten Frost in die Erde legt, und die Verkäuferin einem an der Kasse dann aber sagt: „Die können Sie auch jetzt schon einpflanzen. Aber gut wässern.“
„Kein Problem“, dachte ich mir. „Die Regentonnen sind ja voll.“
„Ist das etwa nichts?“, fragt Du mich von oben herab und lässt ein Gewitter auf mich niederrauschen. Ich gebe mich geschlagen. Du hast ja so recht. Deine Abwesenheit erspart mir das anstrengende Schleppen der Gießkanne. Alles nur eine Sache der Einstellung.

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Marias Postkarte. Sie verursachte einen übel schmeckenden Kloß in meinem Hals. Wie viele Frösche muss eine Geliebte schlucken?

Und ich hätte skeptisch werden sollen, als meine Freundin Maria mich mit der traurigen Wahrheit in Form einer Postkarte wachrütteln wollte. Sie als meine Freundin sah doch, wie ich litt.  Auf der Karte stand: „Ich liebe den Sommer. Das ist die schönste Woche im Jahr.“
Sie könnte von Dir sein, Du blöder Sommer, um mich loszuwerden, aber so ehrlich bist Du nicht, Du ewiger Versprecher, Du Lügner, Du untreue Jahreszeit.

Und dennoch werde ich Dich wie jedes Jahr im Herbst zum Flughafen begleiten und Dich verabschieden wie eine erfüllte Geliebte es tun würde. Obschon ich weiß, dass Du Dich über den Winter wieder einmal mit Deinen brasilianischen Gespielinnen vergnügst.
„Es wird Ende Mai werden, dann aber nur kurz“, hauchst Du mir ins Ohr, und gehst, ohne Dich noch einmal umzudrehen.
„Komm wieder zurück, Du launischer Geliebter“, denke ich Dir hinterher und hoffe auf einen schönen Herbst, der Ersatz, aber niemals Konkurrenz für Dich sein könnte.
Aber eines sage ich Dir: „Zieh’ Dich warm an, wenn Du wiederkommst. Das werde ich auch tun!“

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Um die lange Zeit ohne den Sommer zu überstehen, werde ich in diesem Jahr “Maus” tragen. Sie sind kuschlig und warm, so wie man sich die Haut des Geliebten wünscht. Sie wundern sich über meinen ungewöhnlichen Geschmack? Andere tragen Fuchsbeine um den Hals. Ich Maus!

 

Nun, liebe Leser, verzeihen Sie mir meinen heftigen Ausbruch, aber auch eine unerfüllte Geliebte muss mal ihr Schweigen brechen. Danke fürs Zuhören, sage ich unter Tränen. Glauben Sie dem Sommer nicht, was er verspricht. Sie sehen ja, wohin das führt…

Herzlich
Ihre Andrea Klasen

Zwischen Leben und Tod

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

jedes Mal, wenn ich das Glück habe, einer Blindschleiche oder einer Ringelnatter zu begegnen, erschrecke ich mich im ersten Moment, weil diese Tiere so fremd sind, so anders, sich schlängelnd schnell bewegen, ohne das man genau erkennen könnte, wie ihr Körper diese elegante Bewegung entstehen lässt.
Ihre gespaltenen Zungen blitzen hervor, so als ertasteten sie damit die Stimmung der Außenwelt, und glichen sie mit der Temperatur ihrer Seelenlandschaft ab.
Und betörend erst ihr Glanz. Die Ringelnatter, die ich im vergangenen Oktober auf einer glatten schwarzen sonnenwarmen Landstraße zwischen zwei kleinen Dörfern in der Eifel bewundern konnte, schimmerte blaugrün, wie ein Opal, der sich in ein wechselwarmes S verwandelt hat, bloß um alle Nuancen seiner tausend Farben leuchten zu lassen.
Ich hielt den Atem an, als ich diesen sich schlängelnden Edelstein sah und hielt sicheren Abstand. Bloß unbemerkt bleiben, um das sich ständig neu formende und doch stets bestehende S in seiner Choreografie nicht zu stören. Mit klopfendem Herzen blieb ich zurück, als die perlmuttene Natter in einer hohen Wiese wieder Tarnung und Feuchte fand.
Diese Ringelnatter war mit ihrer Schönheit und ihrer stattlichen Größe von bestimmt einem Meter, unübersehbar.

Deutlich kleiner ist die Blindschleiche, die nicht zu den Schlangen zählt, sondern zu den Echsen, zur Familie der Schleichen. Sie kann bis zu einem halben Meter lang werden.
Die Blindschleiche schimmert kupfer- und bronzefarben, was ihr ihren Namen gegeben hat: „Blind“ ist das althochdeutsche Wort für „blendend“, und wirklich: bewegt sie sich, schillert ihre Haut wie das Gefieder eines Eisvogels. In der Schweiz wird sie auch „Kupferschlängli“ genannt.
In der ersten Augustwoche dieses Jahres, als der sonst kalte Sommer an wenigen Tagen wieder zu sich fand (den heftigen täglich über uns niedergehenden Platzregen vergessen wir jetzt einfach mal), hatte ich Besuch von meiner Freundin Barbara Echtler, einer Tierheilpraktikerin und Tierkommunikatorin aus dem bayrischen Rammingen, und ihrem Mann Klaus, einem unabhängigen Versicherungsmakler, Coach und Lebensberater.
Bei einem Spaziergang mit ihrem Hund Janka, fanden wir, beinahe schon in Sichtweite meines Wohnhauses – ich wohne für diese Gegend abgelegen zwischen Getreidefeldern und Waldrand – eine Blindschleiche. Sie lag am Rand der schmalen Teerstraße, die an meinem Wohnhaus vorbeiführt.

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Unsere Blindschleiche mit einem ihrer Kinder. Foto: Barbara und Klaus Echtler
Die Schleiche schimmerte, aber sie wirkte matt, erschöpft, und irgendwie unförmig. Wir bückten uns zu ihr herunter, und in diesem Moment verstanden wir, warum ihr Bauch an einer Stelle so dick war; neben ihr schlängelten drei graublaue gerade geschlüpfte Blindschleichen herum. Die Mutterschleiche befand sich also inmitten eines Geburtsvorganges, doch ihr schien die Kraft auszugehen. Ihre Lider waren geschlossen, die gespaltene Zunge hing ihr aus dem Mäulchen. Klaus nahm sie vorsichtig in die Hand, sie widersetzte sich nicht mehr, und als er sie umdrehte, sahen wir eine Öffnung, wie einen Schnitt oberhalb ihrer Schwanzwurzel. Bei den Blindschleichen ist das letzte Drittel des Körpers der Schwanz. In diesem Bereich gibt es mehrere Sollbruchstellen, die es der beinlosen Echse ermöglichen, Teile des Schwanzes abzuwerfen. Dieser wächst verkürzt wieder nach.
Doch diese Blindschleiche reagierte auf keine Bedrohung mehr. Sie wirkte wie in einem großen Schlaf. Der Welt in Frieden entrückt.
„Ist sie verletzt?“, fragte ich Barbara mit wenig Hoffnung.
„Ich glaube sie ist tot“, gab sie mir zur Antwort und ich blickte auf die sich schlängelnden Mikadostäbchen neben ihr. Ihnen hatte sie gerade noch das Leben geschenkt.
„Sie hat noch Babys in ihrem Bauch, nicht wahr?“, fragte ich Klaus, der die Schleiche immer wieder drehte, um zu schauen, um nicht doch noch Leben in ihr ist. Vielleicht war sie einfach in einer Schockstarre. Doch ihre Lider sahen so aus, als hätten sie sich für den ewigen Schlaf auf immer geschlossen.
Klaus fühlte mit seinen Fingern über den dicken Bauch der Blindschleiche.
„Da sind noch welche drin, das glaube ich auch“, sagte er.
„Dann müssen wir eine Not-OP machen“, schoss es aus mir heraus, und ich erschreckte mich ein wenig, als Klaus und Barbara daraufhin stumm nickten.
„Ich hole einen Eimer, damit wir sie transportieren können. Unter einem meiner Büsche, in den Wurzelhöhlen, lebt schon eine Blindschleiche“, erklärte ich. „Dort können wir die Vier hinbringen, – und operieren.”
„Das ist gut“, antwortete Barbara. „Dann wissen wir, dass sie sich dort wohl fühlen werden.“
Unter meinem Busch mit den vielen Wurzelhöhlen hatte ich beim Wasserschöpfen aus meinen Regentonnen manches Mal eine große Blindschleiche gesehen. Sie lag dann da und schimmerte. Blindschleichen leben meist im Verborgenen, sind ungiftig, können Feinden kaum etwas entgegensetzen, doch wenn sie gut auf sich aufpassen, viel Wert auf Tarnung legen, dann können sie bis zu vierzig Jahre alt werden.
Meine Blindschleiche ist mir eine gute Gartenhelferin. Wenn sie in der Abenddämmerung und am frühen Morgen jagt, vertilgt sie mit Vorliebe Nacktschnecken und nachtklamme Insekten. Leider auch Regenwürmer, die ich als Gartenhelfer auch sehr schätze. – Aber die Schleiche will schließlich auch leben und braucht eine halbe Stunde, um einen Regenwurm zu vertilgen. Würde man ihr etwas von Fast Food erzählen, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach verständnislos mit dem eleganten Kopf schütteln.
Diese „meine“ Blindschleiche aus der Wurzelhöhle erinnerte mich an meine Kindheit: Auf den drei Komposthaufen meines Vaters lebten damals unzählige Blindschleichen. Ich beobachtete fasziniert und mit einem leichten Unbehagen – vor allem aber mit sicherem Abstand – ihr Gekreuche und Gefleuche. Ich hätte nie sagen können, wie viele sich auf dem Komposthaufen tummelten; sie waren so verschlungen wie das Leben, von dessen Vertracktheit ich damals noch nichts ahnte.
Mein Vater war glücklich über die Hilfe der Blindschleichen, die ihn wiederum an die eigene Kindheit erinnerten. Sein Vater war leidenschaftlicher Gärtner und Blumenkenner. Auch bei ihm halfen die Blindschleichen mit.

Das ging mir durch den Kopf, als ich den Eimer zu Klaus und Barbara trug. Hündin Janka stand brav neben den beiden.
Die drei kleinen Schleichen waren voller Leben und windeten sich, als wir sie auf unsere Handflächen nahmen und vorsichtig in den Eimer legten. Mich durchfuhr ein Schauer. Es ist etwas anderes, ob ich die oft kalte Haut meiner beiden Schildkröten Jurij und Elisabeta spüre, die mir so vertraut ist, oder das ungewohnte kalte Schlängeln einer beinlosen Echse. Wovor hatte ich Angst? Es ist das Ungewohnte, das einen zusammenzucken lässt. Zu selten lassen sich die Schlangen in unserem Leben blicken, und zu geheimnisvoll scheinen sie mir.

An allen drei Blindschleichen kann man den Dotterrest noch erkennen. Fotos: Barbara und Klaus Echtler
Ich bewunderte Klaus, der nun auch die große Blindschleiche nahm und sie zu den Kleinen in den Eimer legte. Schnell gingen wir die letzten Meter zu meinem Wohnhaus. Ich führte Barbara, Klaus und Janka zu der Stelle, wo die große Schleiche wohnte. Das grüne Moos inmitten der Wurzeln war nass vom vielen Regen. Als wir die kleinen Reptilien darauf setzten, verschwanden sie blitzschnell in den Löchern der Wurzelwohnung. Ich habe sie seitdem nie mehr gesehen. Es heißt, dass die Blindschleichen gemeinsam in frostsicheren Erdlöchern in einer Kältestarre den Winter verbringen. Hoffentlich leben die Blindschleichen sommertags auch so friedlich zusammen…
In der großen Blindschleiche war kein Leben mehr und ich fragte Klaus, ob er sie öffnen wolle, um die Babys zu retten.
„Ja, hast Du ein Messer?“
„Ja, habe ich, und Desinfektionsspray auch.“ Flink sprang ich auf meine Beine.
„Wenn jemand tot ist, muss man nichts mehr desinfizieren“, sagte Klaus. Ich nickte, hatte als Fernsehmuffel wohl zu wenig Krankenhausserien gesehen, und rannte im nächsten Moment los, ins Haus, um mein schärfstes Messer (auf meinem Weihnachtswunschzettel wird dieses Jahr ein japanisches stehen – für alle Fälle und Häute), Küchentücher und Rescue-Tropfen zu holen. Diese Tropfen bestehen aus Blütenessenzen, die man Tieren oder Menschen geben kann, wenn sie beispielsweise unter Schock stehen.
Ich hatte sie schon oft Vögeln aufs Gefieder getropft, die gegen die Scheibe meines Arbeitszimmers geflogen waren und wieder zu sich kommen mussten.
Drei Stufen auf einmal nehmend, sprang ich meine Holztreppe wieder hinunter und rannte zu Barbara und Klaus.
„Ich werde seitlich schneiden, um die Kleinen nicht zu verletzen“, sagte Klaus mehr zu sich, denn zu uns, als ich ihm das Messer reichte. Klaus drehte sich zu mir um.
„Andrea, schau doch mal im Internet nach, ob Du rausfinden kannst, wie Blindschleichen auf natürlichem Wege geboren werden. Vielleicht hilft uns das weiter.“
Ich rannte wieder nach oben, schaute in aller Eile nach, ob es Videos oder Beschreibungen von einer Blindschleichengeburt gab. War die Öffnung, die die Blindschleiche oberhalb ihrer Schwanzwurzel hatte eine Verletzung, oder gar der Ausgang für ihre Kleinen? In der Aufregung fand ich nichts. Ich stieß lediglich auf die Informationen, dass die Blindschleichen vierzehn Wochen, nach einer oft stundenlangen Paarung, ihren Nachwuchs zur Welt bringen, dass die Babys sich in einer Eihülle entwickeln, und in einer durchsichtigen Membran auf die Welt kommen, die sie sofort durchstoßen.
Acht bis zwölf Jungtiere bringt eine Blindschleiche auf die Welt, circa sieben Zentimeter sind die frisch Geborenen lang. Die Größe stimmte, also waren die kleinen Blindschleichen lebensfähig. Auch die Schlüpfzeit stimmte: zwischen Mitte Juli und Ende August kommen Blindschleichen zur Welt.
Mit meinen Notizen sprang ich wieder die Treppe herunter, diesmal nahm ich die vierzehn Stufen in einem Dreisprung.
Als ich bei Klaus, Barbara und der Blindschleiche ankam, hielt Barbara sieben weitere kleine Schleichen in der Hand. Sie hatten also schon operiert.
Wir legten sie in den Eimer, und gaben, verdünnt mit Wasser, einen Tropfen der Blütenessenzen hinzu, damit ihre Lebensgeister aufgeweckt würden. In drei von ihnen erwachte die Lebenskraft, und sie suchten sofort Unterschlupf in der Wurzelhöhle. Die anderen blieben auf dem Moos liegen.
Jetzt sah ich in Klaus’ Hand die Mutter der Babys. Klaus hatte sie in ein Küchentuch gewickelt. Sie war völlig zerschnitten, das Küchentuch rot gefärbt.
„War nicht schön“, war alles, was Klaus sagte.
Ich war traurig und stolz. Stolz auf Klaus und Barbara, die in meiner wohl geplanten Abwesenheit die Babys auf die Welt gebracht hatten. Das Messer anzusetzen hatte sicher viel Mut erfordert, denn hat man den Schnitt gesetzt, muss man die Sache schließlich zu Ende bringen.
„Wie lagen sie denn in ihrem Bauch?“, fragte ich.
Klaus suchte nach Worten. Er redete sehr langsam: „Wie in einem Strang. Ja, in einem Strang.“
Während ich auf die kleinen Schleichen und das rote Küchentuch blickte, fühlte ich mich der Schöpfung sehr verbunden. Auf einmal waren die Dinge, die im Leben wichtig sind, sichtbar und klar: Ich hatte miterlebt, wie Leben leben will, mit welcher Kraft sich die kleinen wehrlosen Schleichen gewunden hatten, selbstbewusst und kämpferisch. Ihre Mutter hatte, während ihre Kleinen ins Leben und ihre Bestimmung fanden, ihr eigenes verloren.

Ich musste an den Schäfer denken, dem meine Stute Lady und ich auf unserem diesjährigen Wanderritt durch die Eifel begegnet waren. Als wir ihn trafen, betrauerte er ein totes fünfzehnjähriges Schaf seiner 500-köpfigen Herde. Das Tier lag auf der Seite. Seine großen Augen waren geschlossen. Seine Wollhaare bewegten sich im Wind. An den Händen des Schäfers klebte noch Blut, denn wenige Minuten zuvor hatte er, direkt neben dem toten Schaf, einem Lamm auf die Welt geholfen.
„Leben und Tod liegen so nah beieinander“, sagte er und blickte uns mit seinen glasklaren blauen Augen an, als suche er Halt.
Er selber habe seine Frau ein halbes Jahr vorher verloren, erzählte er uns, und seine Augen fanden den gesuchten Halt für ein paar Momente in der Weite der Eifeler Landschaft. Dann sah er uns wieder an. Strähnen seiner grauen gepflegten Stirnhaare flatterten vor seinen Augen. Mit einer gewohnten Bewegung strich er sie mit der Hand zurück.

Die Schafe nahmen Abschied von ihrem toten Herdenmitglied. Sie defilierten regelrecht, blieben neben ihm stehen und hielten inne. Die jüngeren Tiere legten sich in einem Kreis um das verstorbene Schaf, eines legte sogar seinen Kopf auf den Bauch des toten Tieres. Könnte ich den Tod doch auch so annehmen, dachte ich, während ich Lady den Hals streichelte, und mir wünschte, sie wäre unsterblich (das ist sie, aber das ist eine andere Geschichte).
Nach einem langen Gespräch inmitten von Sonne, Wind und Wolkentürmen sagte der Schäfer zum Abschied: „Mit dem Tod müssen wir leben.“ Lady und ich, wir stimmten ihm schweigend zu und gingen talwärts in den nächsten Ort. Vorbei an wilden Orchideen.

Ich kochte Barbara und Klaus noch Tee und Kaffee für die lange Fahrt zurück nach Bayern. Unser Auseinandergehen war leise.
In den nächsten Stunden sah ich immer wieder nach den Blindschleichen, die sich nach ihrer Geburt nicht gerührt hatten. Noch immer lagen sie reglos da. Sie waren den Weg ins Leben nicht zu Ende gegangen. Durch ihren Körper würde sich niemals ein schimmerndes Schlängeln winden. Ich deckte sie mit einem Büschel Moos zu und versuchte das rätselhafte Miteinander von Leben und Tod zu begreifen. Doch so klug wie die Tiere bin ich nunmal nicht.

Genießen Sie, meine verehrten Leser, das Schimmern der Schlangen und Schleichen, wenn Sie Ihren Weg für ein paar Augenblicke kreuzen, und der Sinn des Lebens ist sicher nicht das Hadern, sondern das Leben zu leben wie es uns geschenkt wurde. In vollen Zügen, mit allen Höhen und Tiefen.

Wie immer herzlich

Ihre Andrea Klasen

Wer mehr über Barbara und Klaus Echtler erfahren will, hier der Weg zu ihren Homepages:

Startseite

http://www.klaus-echtler.de/

Glitzerschuh sucht Aschenbrödel

 

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

ich bin eine Frau. Auch eine Pferdefrau. Aber eben auch eine Frau. Durch das Zusammensein mit meiner wunderbaren Stute Lady habe ich raue Hände mit eingerissenen Stellen, in die sich wintertags Ladys Staub häuslich niederlässt. Meine Fingernägel sind in der Regel kurz, um dem Schmutz des Stalles nicht viel Unterschlupffläche zu bieten, und meine Haare sind vom Winde zerzaust, da auf unserem Pferdehof ganzjährig meist eine steife Brise weht. Im Winter sind wir Pferdefrauen durch Mützen und Schals so vermummt, dass man den Menschen nur an seinem pferdischen Begleiter erkennt.

Zuhause lebe und wirke ich als Autorin, die die Morgenstunden so liebt, dass ihr die Minuten im Bad für das tägliche Restaurieren als nutzlose Zeitverschwendung erscheinen. Ich schreibe sowieso lieber in meinem grau-weiß gepunkteten Fleecebademantel, den mir die Mutter meines Freundes geschenkt hat. Dem Postboten stelle ich eine Plastikbox hin und er legt brav, ohne zu klingeln, meine größere Post hinein, denn aufmachen würde ich in dieser Aufmachung nur engsten Vertrauten. Oder Lady, wenn sie denn vorbeikommen wollen wollte.

Man trifft mich an normalen Tagen also entweder in Reitklamotten oder bis mittags im Bademantel. Manchmal aber, ganz selten, aber doch manchmal, meldet sich die glamouröse Seite in mir. Dann allerdings mit voller Wucht.

Diese Seite von mir klopft immer ungehalten an meine Herzenstür, meist wenn ich mich bei einem Autorentreffen in Köln befinde, das alle drei Monate stattfindet (im Dezember glücklicherweise in Dortmund). Bin ich stark, dann fahre ich nach dem Treffen sofort brav nach Hause. Doch allzu oft laufe ich wie ferngesteuert mit einem zufriedenen Grinsen durch die Hohe Straße in Richtung Galeria Kaufhof. Mich interessiert nur die untere Etage, da das Shoppen nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, ich aber in Köln der Versuchung im Wissen des reichhaltigen Angebots der Galeria im ebenerdigen Geschoss nicht wiederstehen kann.

Und auch diesmal Volltreffer: Als ich vor dem Regal meiner bevorzugten Schuhfirma stehe, glitzern sie mich an. Ohne zu überlegen strecke ich meine Hand nach ihnen aus, halte Ausschau nach möglichen Konkurrentinnen, die sie auch entdeckt haben könnten, bin jedoch alleinige Bewunderin und reiße sie aus dem Deko-Regal. Ich streife meine Winterschuhe ab, und lasse den schwarzen Glitzerschuh Heimat an meinem Fuß finden. Er passt. Übereilt stürze ich zur Kasse. Auch hier keine weiteren Anwärterinnen auf den Schuh der Schuhe, den anscheinend niemand außer mir erkannt und entdeckt hat.

Nach dem Bezahlen haste ich hinüber in die Strumpfhosenabteilung, stehe ratlos vor der großen Auswahl feinster Garne, entdecke eine sehr hübsche ernst zunehmende Verkäuferin, der ich meine Glitzerschuhe zeige und das Kleid, das ich unter dem Mantel trage, entblöße: ein dunkelblaues fein gewebtes Strickkleid, eng anliegend, schlicht, ohne Ausschnitt. “Ich möchte nächste Woche in die Oper gehen, in La Traviata, und brauche nun zu Kleid und Schuhen die passende Strumpfhose.” Ich wollte eine von FALKE, da diese Marke in meiner geliebten Heimat hergestellt wird und ich Patriotin bin. Die Verkäuferin maß meine Größe mit den geschulten Augen ab, und sah gedanklich vor sich, was ich vor mir sah: Glitzer und Arien. Zielsicher öffnete sie eine der großen ohne zu stocken sanft gleitenden Schubladen. “So etwas würde perfekt passen.” Sie schob ihre rechte Hand in ein Strumpfhosenmodell und fächerte die sorgsam gewebten Fäden auseinander. Nicht einer der Fäden ging kaputt und ich beneidete sie um ihre weichen gepflegten Hände. Es war die perfekte Strumpfhose, die den Übergang zu Kleid und Schuhen bilden konnte: in einer Andeutung blau, elegant, filigran, weiblich. Ich hörte schon die Stimme der noch glänzenden Violetta, die bald zur Traviata werden sollte.

Ich versteckte die Schuhe in meinem Schrank. Mein Freund, der mich in die Oper begleiten würde, sollte sie erst sehen, wenn ich vollkommen herausgeputzt sein würde, mit gold schimmernden Haaren, geheimnisvollem Lidschatten und roten Lippen.

Der Tag der Verwandlung kam. Um halb sieben wollte ich mich mit meinem Freund an einem Parkplatz in Herdecke treffen. Von dort wollten wir gemeinsam ins Dortmunder Opernhaus fahren. Zwei Stunden nahm ich mir, um mich von der Pferdefrau in die Frau zu verwandeln. Es war eine Kernsanierung. Danach saß die Frisur ausnahmsweise perfekt, der Pony fiel weich schwingend über die linke Augenbraue, mit Glitzerpuder hatte ich meine Lider einer Filmdiva gleich in Szene gesetzt, der Nagellack war so effektvoll und doch dezent wie der Glitzerschuh, den ich nun, fünf Minuten vor Abfahrt, bereits durch Kleid, Strumpfhose und besagtes Opern-Make-up in eine Göttin verwandelt, wieder anlegen wollte, an meine beiden Füße, die nach Mandelöl dufteten.

Ich hörte mich im nächsten Moment hysterisch aufschreien, während ich an mein Make-up dachte und die heranströmenden Tränen noch gerade zurück halten konnte: die Schuhe passten nicht mehr. Sie waren mindestens einen Zentimeter zu groß. Die Wahrheit verachtend rannte ich ins Bad und stopfte allerlei Hygieneartikel der Frau hinein, doch immer schlappte ich heraus, als ich sie wieder und wieder probierte. Meine Füße mussten in Köln durch das lange Sitzen im Konferenzraum und durch das Laufen in der immer erhitzten Stadt angeschwollen sein. Meine mich treu begleitende Schuhgröße war eine Lüge gewesen. Auf was konnte man sich noch verlassen, wenn noch nicht einmal mehr darauf?!

Was half es. Ich musste los. Mein Freund wartete. Ich packte die Glitzerschuhe in die Tasche, um ihm zu zeigen, wie nah ich an der Gestalt einer Göttin gewesen war und zog die flachen Schnürstiefel an, die an die kleine Hexe von Ottfried Preußler erinnerten. Die Tränen unterdrückend kam ich am Parkplatz an. Mein Freund lief mir entgegen. Er trug seine schönen schwarzen Lederschuhe, die er immer bei feierlichen Anlässen trägt. Sie glänzten wie Ebenholz. Und ich wollte die weibliche Entsprechung dieser Schuhe daneben stellen, am Arm meines Freundes von allen Seiten bewundert durch das Portal des Opernhauses schweben. Einmal glitzern, von Fuß bis Kopf.

Mein Freund glitt elegant auf den Beifahrersitz und sah an meinem derangierten Blick sogleich, dass Schreckliches geschehen sein musste. Ich zog einen der Glitzerschuhe aus meiner Handtasche, die ich in all dem Ungemach nicht mehr gegen eine dem Anlass ebenbürtigen ausgetauscht hatte. Immerhin war in dieser großen Alltagshandtasche Platz für mein Fernglas, mehrere Marzipaneier für die Pause und Taschentücher für Vorspiel und Oper. Ich drückte meinem Freund den Glitzerschuh in die Hand. “Sie passen nicht mehr. E I N M A L wollte ich schön sein.” “Aber Du bist doch schön.” “Neeeeeeiiiin!” Ich schluckte ein weiteres mal die Tränen herunter und fuhr los.

Als wir an der Oper ankamen, hatte es zu regnen begonnen und ein Windstoß zerstörte die perfekte Welle meines Ponys. Ich stülpte meinen gewalkten taubenblauen Mantel über meinen Kopf und rannte mit den anderen Besuchern zum Portal der Oper, wo ein eisiger Wind durch die Schleuse zog. Meine nur von der hauchzarten Strumpfhose bedeckten Beine bekamen eine Gänsehaut. Die Hexenschuhe waren voller Schlammspritzer. Ich fand erst Frieden, als ich ein Marzipanei gegessen hatte, der Vorhang sich langsam hob und es dunkel im Zuschauerraum wurde. Nun waren meine Hexenschuhe nicht mehr zu sehen. In meiner Handtasche glitzerten die untreuen Märchenschuhe weiter vor sich hin.

Die Aufführung war wunderbar und als Violetta ihrem Alfredo, schon stark von ihrer todbringenden Krankheit gezeichnet, ihre grenzenlose Liebe kraftvoll schmetternd erklärte, da verschwand auch der Rest meines aufwendigen Make-ups. Als wir zurück zum Auto gingen, taten die Hexenschuhe einen guten Dienst. Die Glitzerpumps hätten die vielen Pfützen und den peitschenden Regen nicht so gut überstanden…

Am nächsten Morgen – noch bevor ich meinen ersten Schluck Tee getrunken hatte, den Bademantel trug ich schon, – bestellte ich die Glitzerschuhe im Internet. Eine Größe kleiner und um die Hälfte billiger. Am nächsten Tag schon hielt ich sie in den Händen. Sie passen perfekt und warten nun auf ihren Auftritt.

Größe 38 ist seitdem auf der Suche nach dem passenden Fuß. Freundinnen und Bekannte haben sie probiert, aber sie passten nicht. Nun biete ich sie im Internet an. Vielleicht meldet sich Cinderella bald per Mail, und das Märchen vom Glitzerschuh nimmt doch noch ein gutes Ende für alle Glitzernden.

Mein Fazit aus diesem tränenreichen Akt: Kaufen Sie lieber nur morgens Schuhe, und machen Sie vor dem Opernbesuch immer eine Generalprobe.

Mit herzlichen Grüßen Ihre

Andrea Klasen

 

Nur wer reinen Herzens ist…

Liebe Rosinensucher und Perlenfinder,

heute ist Heilig Abend. In meinem Leben immer einer der schönsten Tage des Jahres. Ich habe das große Glück, immer noch mein “Kinderweihnachten” feiern zu dürfen. Gemeinsam mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern. In meiner Familie wird gerne und viel geschenkt. Während des Jahres und besonders an Weihnachten. Noch immer schreiben wir Kinder Wunschzettel, die wir spätestens Anfang November auf das Fensterbrett der elterlichen Küche legen. Meist abends, damit das Christkind sie in der folgenden Nacht im Schutz der Dunkelheit sogleich einsammeln kann. In diesem Jahr habe ich nur einen Wunsch: Im Juni, wenn die Tage lang, hell und endlos sind, mit meiner Stute Lady wieder durch die Eifel zu wandern. Wir zwei ganz allein in einer menschenleeren Landschaft, in der man seinen eigenen Herzschlag wieder hört, Wünsche und Träume an die Oberfläche kommen, die sonst durch zuviele Pflichten, Lärm und Abgabefristen von Manuskripten zubetoniert werden. In der Eifel sind Lady und ich uns im letzten Juni in Reinform begegnet. Dass sie in der Gestalt eines Pferdes lebt und ich im Körper eines Menschen, das ist unerheblich. Lady ist mir so nah wie sonst kaum ein Wesen. Sie ist meine beste Freundin, meine Schwester und ich weiß, dass sie jedes meiner Gefühle und jeden meiner Gedanken versteht und niemals darüber urteilen würde.

Eine Tierkommunikatorin hat uns einmal gesagt, dass wir beide schon immer verbunden sind und schon viele Leben miteinander verbracht haben. In einem sind wir sogar Seit’ an Seit’ gestorben. Ich weiß nicht, ob das mit den gemeinsamen Vorleben stimmt, aber es fühlt sich so an. Ziehe ich das in Zweifel, wirft mir Lady einen strafenden Blick zu. Sie urteilt nicht, sie lenkt.

Bei Lady darf ich immer so sein wie ich bin. Sie hat wie alle Pferde, die mit Menschen zusammen sind, nur einen Wunsch: dass ich ehrlich zu meinen Gefühlen stehe und mich ihr gegenüber niemals verstelle. Inkongruenz können Pferde schlecht aushalten. Wer lacht wenn er lieber weinen möchte, dem hilft ein Pferd dabei, dass sich die angestauten Tränen freien Lauf bahnen. Indem es uns beispielsweise sanft in den Bauch zwickt, damit wir wieder zu uns kommen oder während eines Ausrittes oder eines Spazierganges stehenbleibt und uns so prüfen will: “Möchtest Du wirklich jetzt ausreiten und mit mir zusammen sein? Du bist mit den Gedanken ja ganz woanders. Mit einem seelenlosen Körper auf meinem Rücken gehe ich keinen Schritt weiter. Besinne Dich oder lass uns zurückgehen. Ich habe in meiner Herde genug anderes zu tun.”

Die Pferde wünschen sich immer, dass wir in uns hineinhorchen und endlich wieder einmal innehalten. Sie selber leben immer im Augenblick und sie möchten uns zeigen, wie schön das Leben ist, wenn wir uns ganz auf den Moment einlassen. Ich habe oft das Gefühl, dass die Pferde es als ihre Aufgabe sehen, uns wieder diese Lebensqualität zu vermitteln: “Sei Du selbst, schau, in welch silbernes Licht der Vollmond alles taucht, lass Dich verzaubern, wirf die Zweifel über Bord und vertrau Dich meiner Kraft an und unsere Körper werden eins. Genauso unsere Gedanken.”

Als ich von Lady wissen wollte, was sie sich für unseren Wanderritt im vergangenen Juni wünscht, da hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie mich in ihren Rhythmus schaukeln will. Allzu oft, so beschreibt sie es, komme ich von einer grauen Hülle umgeben zu ihr, die erst abfällt, wenn sie mir zur Begrüßung die Hand abschleckt oder mich mit ihren tiefen sanften und mütterlichen Augen ansieht, und so das Wasser auf dem Grund meiner Seele klar und ruhig wird.

In Ladys Gegenwart weiß ich, was der Sinn des Lebens ist und ich weiß, welches Geschenk des Himmels dieses Pferd ist.

Die Pferde sind seit über 6000 Jahre an unserer Seite. Ohne ihre Kraft wären wir Menschen heute nicht da, wo wir sind. Die Pferde haben es uns ermöglicht, weite Strecken zurückzulegen, uns bei der Feldarbeit zu helfen und leider Gottes sind sie auch mit uns in Kriege gezogen. Wer wäre Alexander der Große ohne seinen Hengst Bucephalos? Napoleon Bonaparte ohne seinen Araber Marengo? Dick Turpin ohne seine Vollblutstute Black Bess? Die Pferde tragen uns. Mit ihren Körpern und ihren Seelen.

In diesem Jahr ist es mir schwer gefallen, in Weihnachtsstimmung zu kommen. Vielleicht weil es so warm ist, vielleicht weil die Schneelandschaften meiner Kindheit in meiner Heimat Wittgenstein nur noch ferne Erinnerung sind, vielleicht, weil während der Adventszeit überhaupt keine Ruhe Einzug in mich fand und vielleicht, weil die Menschen da draußen immer kälter und egoistischer werden. Jeder ist auf seinen Vorteil bedacht, jeder will Schnäppchen machen, den günstigsten Handyvertrag abschließen und alle anderen Autofahrer sind Idioten. Wo bitte sind wir gelandet? Ich sehne mich nach Rücksicht, Menschlichkeit und einem Gemeinschaftsgefühl, um mich endlich wieder als ein Mensch unter Menschen zu fühlen.

Dass es noch Menschen gibt, in denen eine Herzenswärme flackert, habe ich ausgerechnet in einer großen Dortmunder Einkaufsgalerie spüren dürfen. Auf der verzweifelten Suche nach einem Laden, der reißfestes weihnachtliches Geschenkpapier verkauft, gelangte ich plötzlich an eine Art Reling, von der aus ich einen Blick ins sogenannte “Basement” wie es ja heute heißt, hatte. Ich traute meinen Augen kaum: Dort standen große Pferde aus Plüsch, aufgestellt in Hufeisenform. Gesattelt und getrenst warteten sie auf Kinder.

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Erwartungsvoll schauten sie über den Zaun, der sie einfriedete. Stolz blickten sie drein, so als wollten sie alle Vorbeieilenden einladen, sich ihrer grenzenlosen Kraft und ihrer Weisheit anzuvertrauen. Ich fühlte mich in diesem Moment wie die kleine Andrea, die jedes Jahr mindestens einmal mit ihrem Opa, einem Seemann,  auf der Kirmes in Hagen nach den Pferden suchte, sie in einer abgelegenen, etwas ruhigeren Ecke fand, die ihren Duft und den des Sägemehls in sich aufsaugte und die sich so sehr wünschte, auf dem Rücken eines dieser Ponies sitzen zu dürfen.

Sie alle waren immer so bunt und verschieden wie die Welt. Es gab Schecken, Braune, Ponies mit schwarzen Punkten, alle sehr gepflegt, die ihre Runden drehten und Kinder glücklich machten. Sogar die Kinder, die vorher aufgedreht waren und aller Welt zeigen wollten, wie toll sie zu Pferd aussehen, die wurden häufig ganz still, während sie auf die Ohren ihres Ponies schauten, ihre Hände in den langen sich wiegenden Mähnen vergruben und durch das sanfte Schaukeln in andere Dimensionen gelangten. Auf dem Rücken eines dieser Pferde wurden die Geräusche der Fahrgeschäfte, die Aufforderung der Eltern, doch mal in die Kamera zu schauen und zu winken, vollkommen unwichtig. Wichtig war es, dem Pferd ein guter Mensch zu sein, es in seinen Bewegungen nicht zu stören und ihm in diesem Moment alle Liebe zu schenken, die es als Kirmespony braucht, um seinen sicher mühsamen Job auszuhalten.

Wie oft saß ich auf einem dieser Ponies und ich ritt nicht etwa in der engen Manege einer Großstadt, sondern flog an den Wolken vorbei, jagte die Schaumkronen eines empörten Meeres während die Mähne meines Pferdes mir ins Gesicht wehte.

Ich folgte dem Geruch des Sägemehls, verließ die erste Etage der Galerie mit der Rolltreppe und gelangte ins Erdgeschoss. Ich war bei den Pferden. Am liebsten hätte ich zu jedem einzelnen eine Lebensgeschichte erfunden. So lebendig waren sie für mich. Ich berührte den Hals eines der Tiere. Es war so, als neige es den Kopf zu mir herunter und berührte hauchzart mit seinen weichen Lippen meinen Handrücken. Die Liebe der Pferde ist so sanft und zärtlich.

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Auf einmal sah ich, dass sich auch ein Einhorn in der Reihe der Pferde befand. Es trug einen weißlich rosa farbenen Umhang mit einer Krone darauf. Einhörner bekommt man höchst selten zu sehen. Meist an kristallklaren Seen, wo sie während des Trinkens kurz aufblicken, einen ansehen und dann schon wieder verschwunden sind. Einhörner sind Wesen, die nur der sieht, der reinen Herzens ist und einfangen lassen sie sich nur von jungfräulichen Mädchen. Da stand es also, inmitten der anderen Pferde, weit und breit kein See, keine Elfen, nur hetzende Menschen mit vielen Tüten am Arm und einem Smartphone am Ohr. “Na das ist mal ein modernes Einhorn”, dachte ich mir, “das sich überwunden hat, die Schönheit für ein Weilchen hinter sich zu lassen, in die Dortmunder Innenstadt zu traben, um hier Kinder glücklich zu machen.” Erwartungsvoll stand es da. Ich entdeckte ein Schild: “5 Minuten reiten 2 Euro. Zehn Minuten reiten 4 Euro. Bitte achten Sie selber auf die Zeit.”

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Ich ging zu dem Zebra hinüber, das auch bereitstand. In diesem Moment wurde es ganz still. Die verkaufsbegleitende Musik des Einkaufscenters verkam zu einem bedeutungslosen Brei, die Absätze der vorbei eilenden Menschen hörten auf zu klappern und ein Einhorn betrat würdevoll die Bühne. Alle Einkaufenden wichen ihm unbewusst aus, ohne zu bemerken, dass sie soeben dem edelsten der Fabeltiere begegnet waren. Doch das Einhorn schritt königlich. Auf seinem Rücken ein dunkelhaariges Mädchen, das mit aller Behutsamkeit die Pedalen seines Equiden durchtrat, damit das Einhorn sich einer Raupenbewegung gleich nach vorne schon. Mit aller Vorsicht saß das Mädchen auf dem Rücken des Tieres. Niemals hätte es an den Zügeln gerissen, wenn das Einhorn welche getragen hätte. Niemals hätte es über die Geschwindgkeit seines Reittieres bestimmen wollen, niemals hätte es die Eigenheiten des Einhorns in Bahnen lenken wollen. Dieses kleine Mädchen war reinen Herzens und ohne Erwartungen an das Einhorn. Es ritt durch eine Landschaft voller Schmetterlinge und duftender Blumen, wo die Grillen zirpen und das Einhorn an einem blauen See seinen Durst stillt. Ich setzte mich auf eine der Bänke und sah den beiden zu. Dieses Mädchen hatte das Wesen der Pferde und das der Einhörner verstanden.

Glücklich verließ ich die überheizte Galerie und wieder an der frischen Luft galoppierten Bucephalos, Marengo und Black Bless an mir vorbei. Angeführt von meiner Lady, dem schnellsten aller Pferde. Einige Einhörner folgten.

Meine lieben Leser. Ich wünsche Ihnen von Herzen ein segensreiches Weihnachstfest. Und vielleicht haben Sie das Glück jetzt bei Vollmond, ein silbern schimmerndes Einhorn auf einer Waldlichtung grasen zu sehen. Einhörner lieben die Vollmondnächte und Menschen, die sie sehen.

Herzlich Ihre Andrea Klasen